Wir sind Schweizer:
Anita Bänninger

Anita Bänninger, Produktionsmitarbeiterin Briefkästen und Paketboxen, liebt ihre Arbeit, Tiere und Gäste, die auch wieder gehen.

Sie sei jähzornig und stur. So eröffnet die Ottenbacherin unser Gespräch. Ihre Eigendarstellung erscheint übertrieben streng und tatsächlich zeigen sich auf der spannenden Reise durch Teile von Anitas Leben auch viel Wärme und eine grosse Portion Humor.

Anita hat die letzten beiden Jahrzehnte ihres beruflichen Daseins Briefkästen produziert. Als ihr früherer Arbeitgeber im Jahr 2009 diese Sparte aufgab, hat sie bei Schweizer im gleichen Bereich eine neue Arbeitsstelle gefunden. Das neue Team lag ihr auf Anhieb. «Leute in einer Werkstatt sind immer in etwa gleich: Es fallen öfter mal ein paar «blöde» Sprüche, die dann prompt auch retour kommen – das braucht’s. So ist das Schaffen schön.» Und kontern könne sie gut.

Den Teig liess sie ruhen.

Nach der Schule lernte Anita jedoch zuerst Bäckerin/Konditorin, dies nicht freiwillig. Ihr strenger Vater erhörte ihren Wunsch nach einer Maurerlehre nicht. Die junge Anita musste sich demütig fügen, was in diesen Zeiten noch üblich war. Schon während der Lehre bekam sie ihr erstes Kind und setzte dank Unterstützung durch den Lehrmeister die Ausbildung fort. Nach erfolgreichem Abschluss arbeitete sie einige Jahre in ihrem erlernten Beruf, bis sie der Backstube dann endgültig den Rücken kehrte. Bis heute überlässt sie die Arbeit rund um den Teig lieber anderen, schliesslich gebe das «eine Sauerei in der Küche». Süsses mag sie nach wie vor, aber ihre Bestimmung war ihr Lehrberuf nie. Die «Déformation professionelle» hat sie beibehalten, sie bleibt wachsam und so klärt sie den heimischen Konditor auch schon mal ungebeten über eine Optimierung der Gelatinemenge auf.

Für Schweizer musste das Pferd Opfer bringen.

Während ihrer «Briefkastenkarriere» hat sie sich sukzessive weiterentwickelt und ist nun für das termingerechte und vollständige Bereitstellen und Vorbereiten des Materials verantwortlich. Sie rüstet und bereitet vor, was die Arbeitskollegen anschliessend zusammenbauen. Sie ruft auch Material ab, zum Beispiel aus dem Hochregallager, und stellt die Aluminiumbleche und -profile für das Lackierwerk zusammen.

Vor einigen Jahren wurde ihr die Teamleitung angeboten, «der Run darauf war nicht gross», merkt sie offen an. Sie hat dann eine Teamleiterausbildung absolviert, bei der sie viel Nützliches lernte, aber auch – ihrem Naturell entsprechend – einiges kritisch hinterfragte. Während zwei Jahren jeden zweiten Samstag die Schulbank zu drücken, machte ihr zwar Spass, aber hatte seinen Preis: Für das so lieb gewonnene Pferd blieb deutlich weniger Zeit. Das Wachhalten im Unterricht fiel ihr nicht immer leicht. Die gewohnte Arbeit im Werk macht sie weniger müde als aufmerksames Zuhören.

Das Produktionsteam besteht aus 10 Mitarbeitenden, wobei nebst ihr zwei weitere Frauen tätig sind. Das Verhältnis in der Produktion, welche seit kurzem von Sascha Läubli geleitet wird, ist ausgesprochen kollegial und geht über das rein Berufliche hinaus. Jährlich wird ein gemeinsamer Ausflug organisiert, es wird grilliert und man tauscht sich auch über Privates aus. Normalerweise beginnt ihr Arbeitstag bereits um sechs Uhr morgens, dafür ist dann aber um halb vier ist bereits Feierabend. Dann hat Anita noch ein paar Stunden Freizeit, bis sie spätestens um 21 Uhr ins Bett fällt. Abendfilme enden häufig ohne sie.

Die Mutter von zwei Söhnen und einer Tochter wurde vor Kurzem zum zweiten Mal Oma. Die Sorge um nachkommende Generationen ist sicher mit ein Grund dafür, dass sie die Umweltfreundlichkeit, welche sich Schweizer auf die Fahne geschrieben hat und konsequent lebt, sehr schätzt.

Seit einem Jahr ist sie auch Mitglied der hauseigenen Betriebssanität. Grosse Einsätze blieben ihr bisher erspart und natürlich ist sie froh, wenn das Telefon nicht klingelt und es allen Kollegen gut geht. Für den Ernstfall fühlt sie sich nach einer Intensivausbildung aber optimal vorbereitet.

«Für mich ist alles positiv. Ich schaffe gerne!»

Anita schätzt ihre Arbeit so sehr, dass sie auch schon mal am Freitag den Montag herbeisehnt. Bereits als Kind wünschte sie sich, ihre späteren Tätigkeiten mit Freude zu verrichten. Am Wochenende widmet sie sich nach den üblichen Verpflichtungen wie Einkaufen und Haushalt ihrem grossen Hobby: der Handarbeit. Jeder Rest Wolle wird verwertet und findet z.B. in einem wunderschönen bunten Pulli seinen Einsatz. Anita ist vielseitig, fast ruhelos, nie ohne Beschäftigung. Ausser beim kleinen Mittagschlaf am Samstagnachmittag.

Obwohl sie sich als Einzelgängerin bezeichnet und Gäste nach einem schönen Abend gerne wieder ziehen lässt, verreist sie einmal jährlich mit ihrer Schwester und ihrem Enkel nach Österreich oder z.B. auf den Stoos. Die Kombination aus Wellness und Kinderurlaub hat seit zehn Jahren Tradition und ist immer ein grosses Highlight.

«Bei mir heissen alle ‚hoi‘!»

So wenig gewöhnlich ihre Persönlichkeit ist, ist auch ihre Krankheit, die sie lebenslang begleitet und viel zu ihrer Prägung beigetragen hat. Anita leidet wie ca. 2,5 % der Bevölkerung unter Prosopagnosie (Gesichtsblindheit). Es kann passieren, dass sie einen Kollegen oder gar ein eigenes Kind nicht wahrnimmt. Vorsorglich hatten ihre Kinder früher immer knallige Kleidung an, damit sie sie gleich erkannte. Tatsächlich ist sie an ihrem Sohn schon vorbeigelaufen.

In der ihr vertrauten Werkstatt macht sich dies – im Gegensatz zum öffentlichen Raum – seltener bemerkbar. Eine Haarveränderung oder eine neue Brille lassen die eingeprägten Merkmale jedoch schwinden. Für den Umgang mit dem Phänomen hat sie schon lange eine eigene Strategie gefunden, um nicht unfreundlich zu wirken. «Bei mir heissen alle ‚hoi‘!». Bei Tieren stellt sich das Problem nicht, die kommen von allein auf sie zu. Ein weiterer Grund für die grosse Zuneigung zu den Vierbeinern.

Die Zeit nach den Briefkästen hat sie gedanklich bereits vor Augen. Als glückliche Pensionärin sieht sie sich bei ihrer Schwester auf dem Hof im Thurgau. Die zwei verstehen sich blendend und teilen ihre grosse Liebe zu Pferden. Von einer Frauen-WG mit vielen Tieren soll dann das nächste Kapitel in Anitas Leben handeln.

Darauf, dass es genau so kommt!